Supervision : Interview
Prof. Dr. Heinz Kersting (H.K.): Liebe Andrea, schön, daß Du Dir die Zeit genommen hast, um mit uns über systemische Supervision zu sprechen.
Andrea Ebbecke-Nohlen (A.E.N.): Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.
H.K.: Ich bin nicht zum erstenmal im Heidelberger Institut. Für mich steht dieses Institut als eine der ganz wichtigen Forschungsstätten für systemische Therapie, und ich nenne es bei den Studenten in einem Atemzug mit Palo Alto, Mailand oder Meilen. Ich sage oft, in der Mitte von allem liegt Heidelberg. Das stimmt auf jeden Fall, da die Erde ja eine Kugel ist.
A.E.N.: Das ist ein schönes Bild.
H.K.: Von Heidelberg sind für mich ganz wichtige Konstrukte für die systemische Familientherapie ausgegangen. In der letzten Zeit beobachte ich, daß Ihr Euch vermehrt mit Organisationsberatung, aber auch mit Supervision beschäftigt. Für diese wissenschaftlich- theoretische Beschäftigung mit Supervision steht Dein Name. Meine erste Frage darum, wie bist Du als systemische Familientherapeutin dazu gekommen, Dich mit Supervision zu beschäftigen?
A.E.N.: Nun auf der einen Seite habe ich im Laufe der Jahre immer mehr Anfragen aus den unterschiedlichsten Feldern bekommen, als Supervisorin zu arbeiten. Auf der anderen Seite habe ich selbst nie eine spezifische Ausbildung in Supervision genossen. Gleichzeitig habe ich aber im Rahmen meiner Tätigkeit als Lehrtherapeutin der IGST im Weiterbildungsbereich seit über 10 Jahren unentwegt mit supervisorischer Praxis und Theorie zu tun. Man kann sagen, ich kam durch die Praxis zur Supervision und habe mir mein supervisorisches Wissen durch learning by doing erarbeitet.
Nachdem ich dann über Jahre Supervision ausgeübt habe, in verschiedenen Kontexten, mit verschiedenen Gruppen sowohl aus dem Profit- als auch aus dem Non-Profit- Bereich, stellte sich natürlich über kurz oder lang die Frage nach einer spezifischen Supervisionstheorie. Ich habe dann den eigenen Supervisionsstil mit anderen Vorgehensweisen verglichen und nach den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden gesucht. Und dann habe ich angefangen zu erforschen, wie ich eine Praxistheorie entwerfen kann, die zu der Form von Supervision paßt, die ich entwickelt habe. Zusätzlich zu dem, daß man eben tut, was man tut und daß man es vor dem Hintergrund einer bestimmten Metatheorie tut, beginnt man, über den Weg der Reflexion des eigenen Tuns, eine Theorie zu bilden. Und als nächstes kommt dann die Frage, wie kann man die eigene Theorie und die eigene Praxis lehren und an andere weiter geben.
H.K.: Machst Du einen Unterschied zwischen systemischer Therapie und systemischer Supervision? Ich habe einen sehr provokanten Satz von Fritz Simon gefunden, in dem er anmerkt, daß die systemische Therapie zu so etwas geworden wäre wie Supervision. Das klingt dann fast so, als würde sich der Unterschied aufheben.
A.E.N.: Ich würde gern einen anderen Satz daneben stellen, der vielleicht - zumindest für KlinikerInnen - ebenfalls provokant sein kann: "Familientherapie ist Organisationsberatung für Familien." - Wenn wir den systemischen Therapiebegriff, der ja auf Pathologiekonzepte, Defizitsuche usw. gänzlich verzichtet, wirklich ernst nehmen, dann machen wir in der Systemischen Therapie eigentlich Organisationsberatung für Familien, für Paare oder für Einzelne. Und wenn wir Supervision machen, denke ich, machen wir in gewisser Weise Organisationsberatung für professionell Tätige z.B. im Gesundheitssektor oder in anderen Bereichen. Ich sehe den Unterschied zwischen Supervision und Therapie vor allem in bezug auf die Personen oder die Institutionen, die Supervison nachfragen. Der Kontext bestimmt letztlich, wie man das nennt, was man tut.
H.K.: Aber jetzt hast Du den Unterschied nur verschoben. Du hast ihn verschoben zur Organisationsberatung. Ich habe auch schon einmal die These geäußert, daß, wenn man es systemisch betrachtet, der Unterschied zwischen Supervision und Organisationsberatung schwer zu machen ist. Und trotzdem wird er gemacht. Machst Du ihn nicht?
A.E.N.: Nein, eher nicht. Ich schaue vor allem auf die Form der Supervision und auf das methodische Handwerkszeug; beispielsweise ist mir wichtig herauszufinden: "Wie kann ich Gespräche gestalten, wie kann ich herausfinden, worüber wie gesprochen werden soll?" Es geht mir dabei vor allem um das gemeinsame Aushandeln des Auftrags , um die Nutzung der vorhandenen Ressourcen und um die Gestaltung eines Gesprächsprozesses. Und was dies betrifft sehe ich keinen Unterschied zwischen Supervision und Therapie. Und der theoretische Überbau, in meinem Fall die systemische Erkenntnistheorie, ist sowieso gleich. Von daher stehen für mich eher die Gemeinsamkeiten der beiden Tätigkeitsbereiche im Vordergrund als die Unterschiede.
H.K.: Und wenn man es verkaufen will? Wenn man Supervision, Organisationsberatung und Therapie verkaufen will? Würdest Du dann die Markenartikel in Deinem Schaufenster jeweils anders auszeichnen oder würdest du sagen: Eigentlich ist es egal.
A.E.N.: Wenn wir etwas verkaufen wollen, stellt sich die Frage: Wo wollen wir es verkaufen und an wen? Stellen wir uns vor, wir würden Werbebroschüren machen, dann würden wir eine Broschüre für Patienten und Patientinnen machen und eine andere Broschüre für professionell Tätige. Beide Adressaten sprechen jeweils eine andere Sprache. Wenn ich nun für das, was ich tue, werbe, nutze ich die jeweilige Sprache der Adressaten.
Zur Verdeutlichung, es macht doch einen Unterschied, ob ich mit jemanden spreche, der sich als Patient definiert, oder mit jemandem, der z.B. in einer Klinik arbeitet, und mehr darüber erfahren möchte, wie er seine Professionalität ausbauen kann. Die Adressaten sprechen andere Sprachen, und es ist mir wichtig, mich im eigenen Sprechen daran anzukoppeln.
H.K.: Z.B. die Sprache der Kommunalverwaltung, die ihr Jugendamt umstrukturieren will.
A.E.N.: ...oder die Automobilindustrie, die die Kommunikation zwischen den verschiedenen Abteilungen verbessern möchte oder zwischen den verschiedenen Produktmanagern.
H.K.: Du würdest dann nicht mehr diese Unterscheidung teilen, die manchmal in der Sozialarbeit zwischen Supervision und Organisationsberatung gemacht wird: daß die Supervision stärker auf die Personen zentriert sei und die Organisationsberatung stärker auf die Systeme innerhalb einer Institution?
A.E.N.: Nein, diesen Unterschied würde ich so nicht machen. Auch im Kontext Supervision und vor allem in der Teamsupervision ist es unverzichtbar, das institutionelle System mit seinen Spielregeln im Auge zu haben. Aber wir brauchen sicherlich ein anderes spezifisches Know-how, je nachdem ob wir Therapie, Supervision oder Organisationsberatung machen.
Ich bin zwar einerseits überzeugt davon, daß man mit dem puren Wissen über systemische Gesprächsführung in fast jedem Kontext nützliche Fragen stellen kann und damit zum Finden von Lösungen beitragen kann, aber ich bin weniger eine Anhängerin der "Expertise des Nichtwissens", wie sie von Klaus Buchinger vertreten wird. Es hat aber schon etwas Bestechendes, daß wir ganz wenig inhaltliche Vorannahmen brauchen, um auch in einem uns fachlich fremden Kontext gescheite Fragen stellen zu können. Auf der anderen Seite denke ich, ist es sehr nützlich, spezifisches Know-how aus dem Gebiet zu haben, in das man sich begibt. Nehmen wir das Beispiel der Psychiatrie: Vor allem im Diagnosefeld der Psychosen ist es außerordentlich wichtig, etwas über das Konzept der Ambivalenz zu wissen, um das Verhalten von PatientInnen besser verstehen zu können. Scheinbare Eindeutigkeit im Wollen und gleichzeitige Stagnation im Handeln ist meistens Ausdruck einer zugrunde liegenden Ambivalenz von Seiten der PatientInnen. Ähnliche Muster oder auch isomorphe Strukturen, finden sich oft eine Ebene höher im Helfersystem nochmals wieder. Scheinbar eindeutige Supervisionsaufträge entpuppen sich in diesem Zusammenhang oft als höchst ambivalent. Dies wiederum hat Folgen für das Erarbeiten von Lösungen. Lösungen sollten im Falle ambivalenter Aufträge immer zweigleisig sein und "Sowohl- Als- Auch- Möglichkeiten" beinhalten. Die Suche nach eindeutigen Lösungen erweist sich im Kontext Psychiatrie häufig als Falle.
Wenn ich also Wissen habe über spezifische Kommunikationsmuster in bestimmten Systemen und wenn ich mich mit der Arbeit an isomorphen Strukturen auskenne, dann ist das für mich als Supervisorin sicher überaus hilfreich, und ich kann zusätzlich zu meinen allgemeinen systemischen Fragen auch noch ganz spezifische Fragen stellen.
H.K.: Es gibt hier eine Reihe von Anschlüssen. Einer wäre die Frage nach dem Lehren. Ein anderer Anschluß wäre die Frage: Was ist für Dich systemisch? Oder die Frage, die ich vielleicht als erstes nehme nach der Unterscheidung von Person und System.
A.E.N.: Ich finde es ist wirklich spannend, daß wir uns inzwischen entscheiden können, eine Person als System zu sehen. Wenn ich eine Person als System betrachte, dann kann ich ihr Verhalten als ein Ergebnis des Dialogs von Emotionen und Kognitionen ansehen. Luc Ciompi hat uns ja darauf hingewiesen, daß wir Menschen jederzeit affektiv und kognitiv gestimmt sind. Wenn wir also unser Verhalten als Ergebnis eines inneren Dialogs ansehen, dann können wir uns auch vorstellen, daß wir auf diesen inneren Dialog Einfluß haben und daß wir diesen Dialog moderieren können. Und wenn wir davon ausgehen, dann sind wir wieder in unserem systemischen Element. Ich kann mit Hilfe meiner systemischen Fragen das beschreiben, was innerhalb einer Person vor sich geht und wie eine Person mit sich kommuniziert.
H.K.: Du sagtest eben, irgendwann habe es Dich interessiert, Supervision zu lehren. Mich interessiert natürlich, wie es dazu kam. Ihr bildet ja auch SupervisorInnen aus und bietet an, Supervision zu lernen. Ich weiß nicht ,ob ihr das Wort Ausbildung gebraucht?
A.E.N.: Ich denke, der bevorzugte Begriff ist der der Weiterbildung. Wenn wir an die Traditionen an unserem Institut denken, können wir sagen, daß die Personen, die zu uns kommen, sich auf einem sehr hohen professionellen Level in ihrer Ausbildung befinden. Also ist das, was wir ihnen anbieten können, eine Erweiterung ihrer Perspektiven und Handlungsoptionen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Weiterbildung angemessener, da verschiedene Ausbildungen ja bereits vorhanden sind.
Wie wir dazu gekommen sind, Weiterbildung für Supervision anzubieten, oder wie ich dazu gekommen bin, läßt sich wiederum aus der Nachfrage und damit aus der Marktsituation erklären. Mein beruflicher Weg hat sich häufig an ganz konkreten Gegebenheiten orientiert. Zum einen waren es also Nachfragen nach Weiterbildungsangeboten, die von außen an mich herangetragen wurden, zum anderen war es meine professionelle Neugier, bestimmte Bereiche auszudehnen und bestimmte Thematiken zu bearbeiten.
Bei der Supervisionsweiterbildung war es ähnlich. Es kamen sehr viele Leute, die bei uns eine Weiterbildung in systemischer Therapie oder systemischer Beratung absolviert hatten, die dann im Laufe ihres professionellen Lebens merkten, daß sie immer öfter auch als SupervisorInnen angefragt wurden. Sie hatten zwar systemisches Know-how, suchten aber noch spezifischeres Praxis- und Theoriewissen, das ihnen in ihrem Supervisionsalltag hilfreich sein sollte.
Wir wurden als Institut mit dieser Nachfrage konfrontiert und haben zunächst Seminare angeboten, die noch nicht in ein Curriculum eingebettet waren, sondern eher in Workshop- oder Seminarform angelegt waren. Dann machten wir den nächsten Schritt und entwickelten ein komplettes Curriculum daraus.
H.K.: Muß man zuerst systemische Familietherapie gelernt haben, um systemischer Supervisor zu werden?
A.E.N.: Stellst Du diese Frage generell für das Feld oder spezifisch für die Praxis der IGST? Bei uns in Heidelberg ist die therapeutische Weiterbildung Eingangsvoraussetzung für die systemische Weiterbildung in Supervision. Die Personen, die bei uns eine Supervisionsweiterbildung machen wollen, haben bereits vorher bei der IGST oder bei einem anderen Mitgliedsinstitut der Systemischen Gesellschaft eine systemische Weiterbildung absolviert. Die therapeutische Weiterbildung ist für uns also eine Eingangsvoraussetzung, die speziell zugeschnitten ist auf die Berufsgruppen, die zu uns kommen.
Wenn Du die Frage ganz allgemein für das Feld stellst, ob man eine therapeutische Ausbildung haben muß, um SupervisorIn zu werden, dann denke ich nicht, daß man die generell haben muß. Man braucht sicher eine Basisausbildung in systemischer Gesprächsführung, und da kann ich mir auch andere Bereiche außerhalb des therapeutischen Bereich vorstellen, in denen man diese systemische Grundausbildung durchlaufen kann, z.B. den pädagogischen Bereich. Wobei ich allerdings denke, daß sowohl das Basiswissen in systemischer Gesprächsführung, als auch die langjährige Berufserfahrung in den jeweiligen Kontexten wichtige Eingangsvoraussetzungen für eine Ausbildung zur SupervisorIn sein sollten. Ich würde nicht viel davon halten, wenn man direkt im Anschluß an ein Studium von der Hochschule eine SupervisorInnenausbildung anbietet.
H.K.: Auch wir verlangen in Aachen eine fünfjährige Ausbildung und eine umfangreiche Weiterbildung. Bei uns ist das jedoch anders gewachsen. Das Systemische war im Norden zunächst nicht so verbreitet wie hier in Süddeutschland. Was bedeutet für Dich der Begriff „systemisch“? Inzwischen ist das ein inflationäres Wort geworden.
A.E.N.: Ja, wir könnten vielleicht noch einen Schritt weitergehen und fragen: "Was ist systemische Supervision?" Der Begriff systemisch ist tatsächlich ein inflationärer Begriff geworden. Viele Leute benutzen ihn als eine Art Etikett, das man sich ansteckt. Wenn man aber schaut, welche Praxis damit einhergeht oder welche Theorie damit verbunden ist, dann gibt es da eine ungeheure Vielfalt. Im Prinzip ist Vielfalt aus meiner Sicht zu begrüßen, aber der Begriff systemisch drückt inzwischen leider fast nichts spezifisches mehr aus und ist auch nicht mehr unbedingt immer ein Gütezeichen.
Wenn Du mich jetzt fragst, was ich unter systemischer Supervision verstehe, dann will ich zunächst darauf zu sprechen kommen, was mir besonders wichtig ist. Zunächst will ich hervorheben, daß systemische Supervision bedeutet, eine Außenperspektive einzunehmen. Wenn wir uns auf den Wortstamm besinnen, so kommt Supervision vom lateinischen "supervidere", was ja nichts anderes heißt als von oben schauen, sich auf eine Metaebene begeben, um von außen, von oben, zu schauen, was da so abläuft im Leben. Gleichzeitig wissen wir ja als SystemikerInnen oder als KonstruktivistInnen, daß wir Teil des Systems sind, das wir beobachten. Das heißt, wir sind uns bewußt, gleichzeitig auch aus der Innenperspektive zu schauen. Wir bewegen uns als SupervisorInnen also sowohl in der Außenperspektive als auch in der Innenperspektive, und wir können zwischen den beiden Perspektiven hin und her wechseln.
Die Möglichkeit, die Außenperspektive einzunehmen, erlaubt es uns, typische Wiederholungen im Denken und Handeln zu sehen. Diese typischen Muster sind bereits in der Auftragsklärung und in der Gesprächsgestaltung zu erkennen und helfen uns dabei, neue Lösungen zu finden. Wenn wir in der Folge in die Innenperspektive wechseln, können wir wieder etwas ganz anderes herausfinden, z.B. wie sich die einzelnen Schritte im Supervisionsgeschehen anfühlen. Durch die Einnahme der Außenperspektive und durch den Wechsel zwischen Außenperspektive und Innenperspektive bekommen wir jeweils andere Informationen, bleiben in Bewegung und können jeweils andere Lösungswege erkennen. Von außen zu schauen bedeutet ja auch, weiter in Distanz zu gehen, und aus der Distanz heraus sehen wir oft andere Dinge. Und wenn wir uns im Anschluß daran wieder nach innen begeben, wieder Nähe zulassen und uns im Gespräch in unser Gegenüber hineinversetzen, sehen wir wiederum andere neue Lösungswege. Durch das Pendeln zwischen Nähe und Distanz bleiben wir in Bewegung.
H.K.: Würdest Du die Außenperspektive gleichsetzen mit der Beobachtung zweiter Ordnung?
A.E.N.: Ja, wenn ich beispielsweise auf die Metaebene gehe und mich selbst als Teil des Supervisionssystems mitreflektiere und Muster erkenne, von denen ich selbst ein Teil bin, dann bin ich auf einer Ebene der Kybernetik zweiter Ordnung.
H.K.: Könnte das ein Ziel von systemischer Supervision sein, daß die Supervisanden genau das Switchen in ihren Arbeitsbezügen zwischen der Außen- und der Innenperspektive lernen?
A.E.N.: Davon bin ich überzeugt. Ich finde diesen Begriff des Switchens sehr treffend, das ist eine schöne Bewegungsmetapher, und Bewegung ist mir für meine Arbeit wichtig. Ich denke, in dem Moment, in dem ich in meinem Kopf und in meinem Tun beweglich bleibe, bin ich mir selbst viel klarer und kann anderen hilfreicher sein. Wenn ich in meiner Sichtweise festgefahren bin oder stagniere, dann bin ich auch in meinen Lösungsoptionen eingeschränkt.
Heike H., Mitarbeiterin von H.K. (H.H.): Ist dies unter Umständen auch eine praktische Aufforderung in der Beratung?
A.E.N.: In der Regel geschieht die Bewegung vor allem im Kopf mit unserer Vorstellungskraft. Wir sprechen über den Perspektivenwechsel und erfinden Bilder und Metaphern, um es anschaulich zu machen.
H.H.: Man könnte diese Aufforderung auch ganz praktisch umsetzen, indem man die Personen bittet, andere Plätze einzunehmen.
A.E.N.: Ja, in unseren Weiterbildungen nutzen wir das oft, z.B. nach den Pausen. Es gibt häufig eine Gruppenregel, daß jeder seinen Stammplatz hat. Manchmal gibt es einen richtigen Run auf die besseren Plätze, aber in der Regel ist die Tradition in Gruppen so, daß jeder den Platz behalten will, den er schon mal hatte. Dieses Muster versuchen wir LehrtherapeutInnen manchmal zu stören, indem wir selber andere Plätze einnehmen. Damit werden auch die anderen eingeladen, sich anders zu setzen. Das bringt mehr Bewegung und löst oft Heiterkeit und Irritation aus.
H.K.: Wie geht es Dir damit, daß Du jetzt auf dem Stuhl sitzt, auf dem sonst Deine Klienten sitzen?
A.E.N.: Daran habe ich auch gerade gedacht, als ich über den Perspektivenwechsel sprach. In der Regel sitze ich auf dem gegenüber stehenden Stuhl, auf dem Du jetzt sitzt, und meine KlientInnen befinden sich auf dieser Seite, auf der ich jetzt sitze. Ich entdecke von hier aus gerade die Welt neu, das sind sozusagen ganz andere Aussichten und Einsichten. Dafür sehe ich mich heute nicht wie sonst im Spiegel. Es ist ein Vorteil meines üblichen Platzes, daß ich mich selbst mit den anderen zusammen im Spiegel sehen kann. Ich nutze immer den Spiegeleffekt der Einwegscheibe, um mich mit im Bild zu haben. So erinnere ich mich auch immer wieder daran, daß ich Teil des Systems bin.
H.K.: Ein Teil, aber auch wieder kein Teil. Der Spiegel vermittelt auch Distanz. Ich bin zwar Teil dieses Systems, aber über den Spiegel wird deutlich, daß ich es auch wieder nicht bin. Er macht vielleicht die Distanz deutlich, die nötig ist, um sich nicht zu verstricken.
Jetzt möchte ich aber noch einmal den Fokus wechseln. Du hast vorhin die systemische Gesellschaft erwähnt. Soviel ich weiß, bist Du eine Mitbegründerin. Du warst lange Zeit auch die zweite Vorsitzende der Systemischen Gesellschaft. Diese Systemische Gesellschaft, der deutsche Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung, trägt ja ebenfalls das Wort Supervision in seinem Namen. Die systemische Gesellschaft ist dabei, ein Positionspapier zu verabschieden, das Deine Handschrift trägt. Was sind für Dich die wichtigsten Marksteine in diesem Papier?
A.E.N.: Das Positionspapier entstand aus einer Kooperation zwischen den Hamburger Kolleginnen und uns. Dabei habe ich natürlich in vielen Bereichen meine Handschrift miteingebracht. Mir war und ist dabei das Verständnis von systemischer Supervision als ein Gebäude aus Theorie und Praxis besonders wichtig. Mir ist es auch wichtig, zum Ausdruck zu bringen, aus welchen Metatheorien wir unsere theoretischen Überlegungen gewinnen und wie wir diese Überlegungen umsetzen, d.h. wie wir die Praxis der Supervision gestalten. Und bei der Gestaltung der Supervisionspraxis stehen für mich wiederum zwei Dinge im Vordergrund, zum einen der Aspekt des Aushandelns eines Auftrags, was wir sehr häufig auch als Auftragsklärung beschreiben und zum anderen der Aspekt der Prozeßgestaltung.
Bei der Klärung des Supervisionsauftrags kommt es darauf an, sich darüber klar zu werden, worüber man eigentlich auf welche Art und Weise sprechen will und woran man z.B. merken würde, daß eine Supervision eine gute Supervision ist und daß sie die Beteiligten einen Schritt weiter bringt. Für die Auftragsklärung setzen wir ganz häufig bestimmte systemische bzw. zirkuläre Fragen ein. Es handelt sich dabei um eine spezifische Methode. Wir wissen genau, welche Fragen wir stellen müssen, wenn wir den Auftrag klären wollen und welche Frage nützlicher und welche weniger nützlich ist.
Die Auftragsklärung ist also der eine Bereich, und der andere Bereich, der mir ganz wichtig ist, ist der der Prozeßgestaltung. D.h. mir ist ganz wichtig, über das Zirkuläre Fragen hinaus, nicht zu vergessen, daß dieser Gesprächsprozeß nicht nur durch die richtigen Fragen gestaltet wird, sondern durch ganz bestimmte zusätzliche Annahmen. Ich denke dabei an Begriffe wie Ambivalenz oder Vielfalt. Dazu gehört es z.B., immer wieder, die Perspektive zu wechseln und je nach Perspektive immer wieder andere Lösungen zu sehen.
Es geht immer wieder darum, das Für und Wieder, das Einerseits und Andererseits, gegeneinander abzuwägen. Schon in der Auftragsklärung werden Ambivalenzen und Vielfalt deutlich, denn in der Regel sind die Aufträge, die an uns herangetragen werden, nicht eindeutig, sondern sie beinhalten verschiedene Wünsche und Erwartungen, die gleichzeitig im Raum stehen.
Es geht also darum, daß wir dann im Supervisionsprozeß nicht so tun, als seien die Dinge, über die wir verhandeln, eindeutig und linear, sondern wir müssen sehen, daß wir den Supervisionsprozeß zirkulär gestalten und in dieser Gestaltung selbstreflexiv bleiben. Wird dies nicht beachtet, kommt es zu einem Bruch zwischen der systemischen Theorie und der praktisch betriebenen Gesprächsführung.
H.H.: Darauf beziehen sich ja auch Ihre 10 Regeln, wie man eine Supervision in den Sand setzen kann.
A.E.N.: Genau, denn wir können uns vorstellen, daß ein bestimmtes Vorhaben durchaus unter systemischen Gesichtspunkten und Regeln geplant ist, d.h. daß es systemisch durchdacht ist. Doch wird das Vorhaben dann, ohne auf die Selbstreflexivität zu achten, durchgezogen, kommt es zu unerwünschten Rückkoppelungen. So kann man Gespräche in den Sand setzen.
H.K.: Das Durchziehen würdest du dann als linear bezeichnen? Das Durchziehen eines Planes, sei er auch noch so schön, ist für Dich linear?
A.E.N.: Ja, das würde ich sagen. Viele SupervisorInnen entwickeln irgendwann während des Supervisionsgeschehens eine Idee davon, wie die Lösung aussehen soll. An dieser Idee halten sie fest und setzen sie oft fast in besserwisserischer Manier gegen die SupervisandInnen durch. Diese Art von Supervision ist in ihrem Prozeßgeschehen nicht mehr systemisch und zirkulär, auch wenn sie systemische Ideen mit einbezieht.
H.K.: Kannst Du das Zirkuläre, noch ein wenig ausführen?
A.E.N.: Ich habe also auf der einen Seite eine Idee, von der ich denke, daß sie vielleicht nützlich und hilfreich sein könnte. Mein Gegenüber hat aber vielleicht eine ganz andere Idee. Während wir dann aushandeln, worum es gehen soll, kann ich meine nächste Äußerung, meine nächste Idee, nur dann systemisch gestalten, wenn ich vorher das aufgegriffen habe, was von meinem Gegenüber gekommen ist. Ich greife die Anregungen und auch die Vorbehalte meines Gegenübers auf, kopple sie mit meinen Ideen und formuliere daraus meine nächste Frage. Diese Rückkoppelung ist aus meiner Sicht ein wichtiger Bestandteil zirkulären Fragens. Im Gegensatz dazu werden in sogenannten systemischen Supervisionen häufig vorfabrizierte, angeblich "zirkuläre" Fragen aus dem Hut gezaubert und den GesprächspartnerInnen vorgesetzt.
H.H.: Liegt da nicht aber auch die Gefahr der Verführung?
A.E.N.: Ja, aber das ist doch das Schöne an unserer Arbeit, daß es immer auch ein "Verführen" und ein "Verführt werden" gibt, auch manchmal ein gemeinsames "Auf- Abwege-kommen". Oft denke ich, es ist eine Art von Tanz, in dem man auch einmal Schritte wagt, die man sich vielleicht sonst gar nicht nach einer bestimmten Melodie ausdenken würde. Man läßt sich verführen von der Einladung des Gesprächspartners oder der Gesprächspartnerin und tanzt auf einmal ganz woanders. Und man kann sich dann auch fragen: "Wo tanzen wir denn eigentlich gerade? Was war denn eigentlich unser Ausgangspunkt? Wie kamen wir denn anschließend hierher, und wofür war das wichtig oder gut, was wir jetzt gemacht haben?" Das denke ich, ist einfach kreativ, es macht Spaß, und es ist auch erlaubt.
H.K.: Das gilt auch für dieses Interview. Ich hatte eben mindestens fünf Möglichkeiten, Anschluß zu finden. Natürlich habe ich meine Fragen, meinen Plan, aber dann versuche ich das miteinander in Einklang zu bringen. Es kommen Fragen, die nicht vorgesehen waren, und es werden dabei natürlich Fragen ausgeschlossen.
A.E.N.: Es gibt bestimmte Formen der Kommunikation, die dieses Verführen sehr gut verkörpern. Beispielsweise in den Bereichen, die etwas mit psychotischer Kommunikation zu tun haben. Da findet man sehr oft eine Focusverschiebung und befindet sich auf einmal in einem ganz anderen Bereich. Die Frage war noch klar, aber dann wird in der Antwort auf eine ganz andere Frage eingegangen, die wir gar nicht gestellt haben, und schon kennen wir uns nicht mehr aus und sind verwirrt. Man fragt sich dann: "Welche Frage habe ich eigentlich gestellt? Was wollte ich überhaupt wissen, wie heiße ich noch, wo sitze ich hier, was mache ich da?" Ich denke, man lernt in diesen Systemen besonders gut zu sagen: "Ich laß mich auch mal verführen, auf andere Wege führen, komme aber auch wieder zurück auf das, was mir wichtig ist." Ich habe natürlich auch eine Vorstellung davon, was mir wichtig ist in einem Gespräch, und gleichzeitig aber auch die Bereitschaft zu schauen, was dem anderen wichtig ist.
H.K.: Du hast jetzt oft die Metapher Tanz gebraucht. In Deinen Schriften gebrauchst Du häufig die Metapher des Spiels. Was reizt Dich so sehr an dieser Metapher Spiel und Supervision als Spiel?
A.E.N.: Vielleicht so etwas ähnliches, was mich auch an der Metapher des Tanzes reizt. Es ist einerseits die Leichtigkeit, die damit verbunden ist, und andererseits wird mit diesen Vokabeln nicht ausschließlich ernsthafte Arbeit verknüpft. Es sind eher unerwartete Metaphern, die aber die Vorstellung vermitteln, daß Arbeit auch Spaß machen darf, gerade Arbeit in schweren Bereichen. Ich denke, ganz häufig sind die Helfersysteme, mit denen wir im Supervisionsbereich zu tun haben, sehr hohen Anforderungen ausgesetzt. In der Regel wird mit diesen Systemen verbunden, daß es sich um schwere Arbeit handelt und daß es eine große Belastung für die Personen ist, dort zu arbeiten.
Auch für diese teilweise sehr harte Arbeit ist es wichtig, das "Einerseits und Anderseits" zu sehen, d.h. zu respektieren, daß es sich oft um etwas Schweres handelt, das unter Umständen mit Leidensdruck und mit tragischen Geschichten verbunden ist, und gleichzeitig zu erkennen, daß man diese Themen durchaus auch mit Leichtigkeit behandeln darf. Es muß nicht auch im Reden darüber die Schwere spürbar werden, sondern man darf lösungsorientiert schauen und dabei auch Spaß haben und lachen. In meiner Arbeit ist der Humor erwünscht.
H.K.: Du gehst an einer Stelle sogar soweit und machst eine Korrelation zwischen Spaß und Erfolg. Du schreibst, wenn es Spaß in einer Supervision gibt, dann ist sie auch erfolgreich.
A.E.N.: Das ist eine Beobachtung, die ich sehr häufig gemacht habe. Es stellt sich natürlich die Frage nach dem Kriterium für Spaß. Man kann sich vorstellen, daß die Supervisorin etwas ungeheuer komisch findet, aber alle anderen im Raum nicht, das wäre dann nicht meine Definition von Spaß. Oder daß auf Kosten von jemandem gelacht wird, wäre ebenfalls unakzeptabel.
H.K.: Sich lustig machen auf Kosten der armen Leute. Supervision ist einfach, macht Spaß und bringt viel Geld.
A.E.N.: Für mich wäre ein Kriterium für Spaß, wenn es einer Runde, ich denke jetzt einmal an eine Gruppensupervision oder an eine Teamsupervision, gelingt, Humor mit in die Arbeit einzuflechten. Wenn es tatsächlich möglich ist, über ein ernstes Thema auch einmal zu lachen, dann ist dies ein sehr hilfreicher Perspektivenwechsel. Oft sehen wir den Erfolg einer Supervision zuerst in der Mimik einer SupervisandIn, die von der Anspannung in die Entspannung kommt und im Anschluß vielleicht auch noch schmunzeln kann. Wenn dies im Laufe einer Supervision öfters zu beobachten ist, bin ich mit der Supervision in der Regel ganz zufrieden. In dem Moment, in dem es möglich ist, Dinge mit Gewissenhaftigkeit und Ernst zu besprechen, und es trotzdem erlaubt ist auch zu lachen, denke ich, ist auch die Beweglichkeit wieder da, und das Gefühl von Stagnation, das sich ja oft in Supervisionssituationen einschleicht, ist weg. Wir kommen vom Ernst zum Spaß, von der Schwere zur Leichtigkeit. Immer dann, wenn wir in Bewegung sind, sind wir auch erfolgreicher in unserem Tun, im Erweitern unserer Möglichkeiten. Oft frage ich dann: "Woran würden wir hier merken, daß es sich um ein ernsthaftes Gespräch handelt?"
H.K.: Ja, das Ernsthafte beim Spiel sind die Regeln.
A.E.N.: Das ist zusätzlich noch an der Spielmetapher interessant. Es ist nicht nur die Leichtigkeit und der Spaß, den sie impliziert. Die Spielmetapher kommt aus der mathematischen Spieltheorie. Dort operiert man mit den Begriffen: Spielziel und Spielregeln und stellt sich z.B. die Frage: "Zu welchem Zweck wird ein Spiel gespielt? Um zu gewinnen? Und nach welchen Regeln wird dieses Spiel gespielt?" Spielziel und Spielregeln sind zwei sehr nützliche Metaphern, die im Spielbegriff enthalten sind.
Nehmen wir z.B. noch einmal die Auftragsklärung. Da kann man mit Hilfe dieser Metaphern herausfinden, wofür wir eine Supervision eigentlich veranstalten, was am Ende dabei herauskommen soll und woran die TeilnehmerInnen merken würden, daß sie erfolgreich und nützlich für sie verlaufen ist und daß sie ein Stück weiter in Richtung Lösung gekommen sind. Ganz wichtig dabei ist, welche Regeln in der Supervision gelten sollen. Und man kann dann z.B.. erfragen, welche Regeln im Arbeitssystem gelten und wie beide Regelwerke miteinander zusammenhängen.
H.K.: Und wer definiert in der Supervision die Regeln?
A.E.N.: Ich würde sagen, es ist ein gemeinsames Aushandeln zwischen allen Beteiligten. Das kann nicht die SupervisorIn einseitig tun. Sie kann zwar zu bestimmten Regeln einladen, aber das Team oder die Gruppe, mit der gearbeitet wird, bestimmt natürlich mit, welche Regeln gelten sollen. So lade ich z.B. im Rahmen einer Einzelsupervision in einer Gruppe die Gruppenmitglieder dazu ein, der SupervisandIn nach dem Erzählen der Fallgeschichte keine weiteren inhaltlichen Fragen zu stellen, sondern stattdessen Hypothesen und Ideen zu äußern. Das ist nicht so schwer, denn hinter jeder Frage steht ja bereits eine bestimmte Hypothese. Und es macht einen großen Unterschied, ob z.B. zwanzig Personen in einer Supervision ihre Ideen zusammentragen und zur freien Verfügung in den Raum stellen oder ob die gleiche Anzahl von Personen anfängt, die SupervisandIn mit Fragen zu löchern. Das ist schon atmosphärisch eine völlig andere Situation, wie sich jeder sicher leicht vorstellen kann.
Zu solchen Verhaltensregeln kann ich z.B. in einer Gruppe einladen. Ob die TeilnehmerInnen mitmachen, ist damit noch nicht gesagt. Es kann ja durchaus sein, daß auf einmal doch jemand sagt: "Ich habe aber noch eine Frage zum Inhalt. Ich möchte unbedingt noch dieses oder jenes wissen!" Dann geht es darum, auszuhandeln, ob es Ausnahmen von der Regel geben soll oder nicht, wie ernst die Regeln zu nehmen sind oder ob eine Ausnahme von der Gruppe ertragen wird, ohne daß dann alle anderen Gruppenmitglieder auch noch eine Fragen stellen müssen.
Ziele und Regeln betreffen also zum einen das Supervisionsgeschehen als solches, zum anderen aber auch institutionelle Bereiche der Supervisandinnen und Supervisanden in ihren Systemen. Denn auch dort sind genau dieselben Dinge relevant. Welche Ziele werden von wem und wie in der Arbeit definiert, gibt es z.B. Arbeitsplatzbeschreibungen, gibt es ein Wissen darüber, welche Ziele eine Institution hat, und welche Ziele der Träger hat? Welche Ziele haben einzelne Teams in einer Organisation? Sind diese Ziele transparent oder nicht, sind sie flexibel oder einmal definiert und nie wieder antastbar? Oder mit welchen Regeln gehen die einzelnen Mitarbeiter um? Das ist das Spannende der Regeln in Gruppenprozessen. Sie stehen nicht wie bei "Mensch ärgere dich nicht“ hinten auf dem Pappkarton, auf dem man nachlesen kann, was man wann wie machen darf und was nicht. Die Regeln, die uns in der Supervision beschäftigen, sind im Normalfall nicht aufgeschrieben, sie sind verhandelbar. Zunächst sind sie häufig gar nicht transparent. Es ist ein Arbeitsschritt, diese Regeln herauszufinden und zu benennen. Diese Vorgehensweise ist sehr fruchtbar in der Supervision.
H.K.: Du hast eben von technischen Methoden gesprochen. Gibt es so etwas wie Methoden systemischer Supervision, die unterschieden werden von denen, die in der Familientherapie gebraucht werden? Oder gibt es Methoden, die man in der Supervision nicht benutzen würde?
A.E.N.: Da würde mir jetzt so schnell nichts einfallen. Fällt Dir denn etwas dazu ein?
H.K.: Mir nicht, nein. Ich wollte es von Dir wissen, Du bist die Familientherapeutin. Ich bin kein Familientherapeut und kann es nur von der Außenperspektive aus sehen.
A.E.N.: Im Moment fällt mir jetzt keine Methode ein, von der ich sagen würde, sie ist nur für die Supervision und nicht für die Therapie geeignet. Selbst die Methode der paradoxen Intervention ist genauso im Supervisionskontext anwendbar. Wie im therapeutischen Kontext auch kann ich z.B. fragen: "Welche guten Gründe hat Ihr Verhalten in ihrem Team und in ihrer Organisation?" Und ich kann dann die Antwort z.B. so kommentieren, indem ich sage: "Ja, wenn das so viele Vorteile bringt, und offensichtlich sind es mehr Vorteile als Nachteile, dann sollten Sie das Verhalten doch beibehalten."
H.K.: Heike hat eben auf die paradoxen Verschreibungen, die Du in Deinem Artikel: Supervision zwischen Auftragsklärung und Prozeßgestaltung beschreibst, hingewiesen. Du stellst dort zehn Regeln auf, um eine Supervision erfolglos zu gestalten. Diese Regeln machen das sehr deutlich, was Du gerade gesagt hast.
A.E.N.: Dazu muß ich noch etwas sagen. Diese Fragen: "Wie können wir etwas in den Sand setzen? Was müssen wir tun, um einen Flop daraus zu machen?" bis hin zu der Frage: "Was müßten Sie tun, um ihre Situation zu verschlimmern?", sind sehr spannend und laden häufig zum Schmunzeln ein, zu einer Veränderung der Gesichtszüge und der Körperhaltung. Die Situation wird dadurch entkrampft, denn die SupervisandInnen denken: "Jetzt habe ich so lange überlegt, wie ich es richtig machen kann und bin hierher gekommen, um meine Situation zu verbessern, und jetzt soll ich mir überlegen, was ich tun könnte, um einen Flop daraus zu machen!" Diese Fragen setzen meistens sehr kreative Lösungen in Gang. Dagegen würde bei der Frage: "Was müßten Sie tun, um erfolgreich zu sein", die Anspannung sofort wieder einsetzen.
H.K.: Ich stelle mir das gerade vor, wie Du Deine Supervisionssitzung anfängst mit dem Satz: "Was muß ich alles tun, damit Sie hier überhaupt nichts lernen?" oder "Was muß ich alles tun, damit diese Supervision wirklich kein Erfolg wird?"
A.E.N.: Ich mache das wirklich gerne. Es gibt ja heute viele Teams, die schon eine Menge Supervisionserfahrung haben und dabei schon eine Reihe von SupervisorInnen erprobt haben. Hier kann die Frage nach dem Flop, wenn sie gleich am Anfang gestellt wird, die Situation sehr auflockern. So ein Erstgespräch mit Auftragsklärung hat ja immer auch etwas von einem "Sich- Gegenseitigem- Beäugen", einem "Prüfen", verbunden mit der Frage: "Wollen wir diese Supervisorin wirklich?" Von meiner Seite stellt sich genauso die Frage: "Ist das eine Gruppe, mit der ich gerne arbeiten möchte?" Wenn man dann solche "Scheiterfragen" stellt, ist gleich eine ganz andere Atmosphäre da.
H.H.: Dazu kann gleich jeder etwas sagen. Meistens weiß man sehr genau, was man nicht will. Was man will, weiß man oft ja gar nicht so genau.
A.E.N.: Das, was sie nicht wollen, wissen die Teams ganz genau. Die Supervisandinnen sagen dann z.B.: "Wenn wir hier Kaffeeklatsch machen, oder wenn Sie sich mit der Chefin anlegen oder wenn Sie immer wüßten, was die richtige Lösung ist, und wir uns dann blöd verkommen müssten, weil wir darauf nicht gekommen sind, oder wenn wir beladener hier wieder heraus gehen, als wir hereingekommen sind, dann wird die Supervision erfolglos sein."
H.K.: Ich erlebe in solchen Situationen, daß die geheimen Spielregeln offenbart werden.
A.E.N.: Ja, das meinte ich mit dem Spannenden. Man erfährt über diese Fragen, die scheinbar so leicht sind, sehr viel Neues. Und wenn man dann etwas über die Ziele und die Regeln herausgefunden hat, kann man gemeinsam überlegen, welche Ziele und Regeln sinnvoll sind und beibehalten werden sollen und welche Ziele und Regeln sich zwischenzeitlich überholt haben und verändert werden sollten.
H.K.: Ich würde gern noch zu einem anderen Thema kommen. Gibt es so etwas wie eine feministische, systemische Supervision? Es gibt zur feministischen, systemischen Therapie, eine reichhaltige Literatur, an der Du ja auch selbst mit gestrickt hast, zum Beispiel mit dem Buch „Balanceakte“.
A.E-N.: Das, was Du jetzt ansprichst, ist mit dem Begriff „gender-sensitiv“, besser getroffen. Wir berücksichtigen in unserem Fühlen, Denken und Handeln die Geschlechterrollen und ihre Auswirkungen mit. Und dies können Männer auch tun. Wobei natürlich nicht von der Hand zu weisen ist, daß sich das Gender-Thema aus dem Feminismus heraus entwickelt hat. Ich denke, der Feminismus ist eine politische Bewegung, eine kämpferische, politische Bewegung, und diese Bewegung definiert sich als parteilich, parteilich für die Sache der Frau, in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft.
Wenn ich nun meinen Standort bestimmen will, kann ich mich natürlich auch in gewissen Kontexten als Feministin bezeichnen, wobei ich mich selbst nicht so nennen möchte. Ich habe aber auch keine Berührungsängste vor diesem Begriff. Gefühlsmäßig würde ich mich eher als Konstruktivistin bezeichnen, als Konstruktivistin weiblichen Geschlechts. Ich denke, daß es wirklich einen Unterschied macht, wie Frauen und Männer Wirklichkeiten konstruieren, nicht nur wie sie Wirklichkeiten konstruieren, sondern wie sie sie auch leben. Der Alltag von Frauen und Männern ist nach wie vor sehr unterschiedlich. Wenn ich den Konstruktivismus ernst nehme, dann sehe ich auch diese unterschiedlichen Wirklichkeiten, diese unterschiedlichen Konstruktionen. Diese Unterschiede fließen natürlich ein, in meine Art, Gespräche zu führen, in meine Art zu fragen. Und ich glaube sogar, daß eine systemisch- konstruktivistische Supervision gender- sensitiv sein muß, weil sie sonst nicht konstruktivistisch ist. Sie würde sonst etwas ausblenden, was zu den ganz vitalen Wirklichkeitskonstruktionen der Beteiligten gehört.
H.K.: Du sagst an einer Stelle, Konstruktivisten würde es am meisten ärgern, daß sie das Geschlecht nicht umdeuten können. Es gibt auch eine andere Form, die ich bei männlichen Konstruktivisten manchmal im Gespräch erlebe, - ich habe das noch nie schriftlich irgendwo gefunden: Sie sagen, daß diese Unterscheidung zwischen Mann und Frau unbrauchbar, langweilig und uninteressant sei.
A.E.N.: Ja, das hört man manchmal. Eine solche Behauptung sagt wahrscheinlich mehr über denjenigen aus, der sie von sich gibt, als über das Gender- Thema. Langeweile ist ein ganz subjektives Empfinden. Ich kann akzeptieren, daß manche Menschen davon gelangweilt sind.
Ich denke auf jeden Fall, daß die Gender- Frage außerordentlich ist. Nehmen wir ein Beispiel. Ich arbeite mit einem Team in der Psychiatrie und finde dort einen Oberarzt, einen Stationsarzt, eine Psychologin und dazu viele weibliche Pflegekräfte und vielleicht noch zwei Stationspfleger vor. Ich habe also eine bestimmte Geschlechterverteilung über Berufsgruppen und Hierarchien in dieser Institution. Mit der institutionellen Hierarchie und den verschiedenen Berufsgruppen sind oft bestimmte Verhaltensregeln gekoppelt, z.B. eine eingeschränkte Redeerlaubnis, eine begrenzte Erlaubnis laut zu denken, Meinungen zu äußern, Vorschläge zu machen. Wenn ich das einfach ausblende, kann ich sehr schnell Mitspielerin in einem System sein, in dem tatsächlich Gender sehr viel Macht und Einfluß hat. Mir ist es aber besonders wichtig, gerade von denen, die häufig wegen ihres Geschlechts oder wegen ihrer Berufsgruppe stumm sind, Ideen zu hören. Unter Umständen würde jemand, der sich auch als systemisch arbeitend bezeichnet, aber auf diese Feinheiten nicht achtet, sich eher damit zufrieden geben, daß der Stationsarzt und der Oberarzt schon den Auftrag geklärt haben, und daß das Pflegepersonal dabei sitzt und nickt. Mir wurde schon oft berichtet, daß das Pflegepersonal, das ja zum größten Teil aus Frauen besteht, aktiv aus dem Gesprächsgeschehen ausgeschlossen wurde.
H.H.: Die Langeweile bezüglich dieser Thematik, wird ja auch vorzugsweise von Männern geäußert.
A.E.N.: So ist es.
H.H.: In einem Aufsatz wird ein Mann zitiert, der eine interessante Aussage macht. Er sagt: "Wir haben viel zu verlieren, aber was wir bekommen, das wissen wir nicht". Sie haben diesen Satz noch erweitert und geschrieben, daß ja beide Geschlechter, etwas zu verlieren haben. Vielleicht haben die Frauen aber noch eher eine Idee im Kopf, was sie gewinnen könnten, aber die Männer?
A.E.N.: Das hängt natürlich auch wieder mit den Wirklichkeitskonstruktionen von Mann und Frau in der Gesellschaft zusammen und ist damit politisch. Sobald Frauen ihren traditionellen privaten Bereich verlassen und in die Öffentlichkeit gehen, sagen die Leute, da gewinnt man etwas dazu, da erschließt sich neben der privaten Welt die öffentliche Welt, das ist ja wunderbar. Wenn aber ein Mann sagt: "Gut ich habe hier meinen Job, aber im nächsten Jahr werde ich Hausmann," dann bekommt er zu hören: "Was Hausmann? Hast Du Dir das auch wirklich gut überlegt?" Jedem ist sofort einsichtig, daß das zwar eine Perspektivenerweiterung ist, daß aber eine solche Veränderung mit mehr Nachteilen als Vorteilen verbunden ist. Diese skeptische Einstellung ist auch eine Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. Und es wäre einfach schade, wenn man in der Supervision darauf verzichten würde, so etwas in die Fragen mit einzuflechten.
H.K.: Ich finde das Vorwort Deines Mannes in dem Buch Balanceakte genial.
A.E.N.: Das ist auch Gender. Meine Beschäftigung mit dem Thema der Geschlechterrollen blieb natürlich nicht ohne Auswirkungen auf unser Leben zu Hause. Wenn sich eine Frau aufmacht, mehr in die Öffentlichkeit zu treten, das berufliche Feld zu erschließen, so wie ich das getan habe, hat das natürlich Auswirkungen auf das häusliche Leben, und es hat Auswirkungen auf die Partnerschaft. Zunächst kann es dann durchaus zu Krisen und Konflikten kommen und zu Situationen, in denen man die Dinge neu aushandeln muß. Es stellt sich dann tatsächlich die Frage: "Haben wir wirklich etwas zu gewinnen, oder ist es doppelter Streß?" Ich denke aber, wenn man durch diese Phase des Aushandelns hindurchgeht, kommt man zu neuen Lösungen. Aus meiner Erfahrung, und da kann ich, glaube ich, auch für meinen Mann sprechen, haben wir beide etwas gewonnen. Das ist meine private, ganz persönliche Erfahrung, wobei ich nicht unbedingt sagen will, daß dies für jeden zutreffen muß. Die Option ist gegeben, aber ob man dann auch die Erfahrung macht und ob man dann die Erfahrung positiv bewertet, das bleibt offen.
H.H.: Ich hätte noch eine Frage, die an die systemisch-gendersensitive Supervision anschließt. Kann man eine Aussage treffen, wie die Geschlechterverteilung in den einzelnen Bereichen - Supervision und Therapie - unter den dort Tätigen aussieht. Irgendwo habe ich bei Ihnen gelesen, daß sich aus dem therapeutischen Bereich kommend, zuerst die Männer das Gebiet der Supervision erschlossen haben, ist das so?
A.E.N.: Das ist eine ganz interessante Geschichte. Für alle in der Supervision Tätigen, die sich aus dem therapeutischen, beraterischen Bereich weiterentwickelt haben, ist die Option, als SupervisorIn zu arbeiten, häufig mit einer ganz konkreten finanziellen Verbesserung verbunden. Wenn jemand Supervision anbietet, nimmt er in der Regel pro Stunde mehr Honorar, als wenn jemand Therapie oder Beratung anbietet. D.h. mit dem Arbeitsfeld Supervision erfolgt die Erschließung eines weiteren finanziellen Bereiches, und hier sind in der Regel die Männer schneller. So sehe ich häufig in unserem Feld, daß Männer sich bestimmte Bereiche zuerst erschließen, Frauen zögern zunächst und rücken dann nach. Ich denke, daß sich Männer schneller attraktive und lukrative Berufsbereiche erschliessen.
H.K. Das würde ich nicht so sagen, denn die überwiegende Zahl von Supervisoren sind Frauen. Zumindest ist das unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Supervision so: Mehr als 60% der Mitglieder sind dort Frauen. Ich vermute, das liegt daran, daß die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Supervision zu einem großen Teil aus der Sozialarbeit kommen. Sozialarbeit ist aber weitgehend ein Frauenberuf gewesen. Aber ich teile Deine Beobachtung, wenn wir an unserem Institut eine Ausbildung anbieten zur Organisationsberatung, dann sind die Männer in der Überzahl.
A.E.N: Ja, das sieht man deutlich, je mehr man aus dem klinischen Non- Profit- Bereich heraus und in den Profit Bereich, in die Organisationsentwicklung oder Organisationsberatung hineingeht, umso männlicher wird der Kontext.
H.H.: Meine nächste Frage in diesem Zusammenhang betrifft ein immer mal wieder neues Thema: Die Emotionalität. Ist das ein Bereich, der im therapeutischem Bereich eher von Frauen angegangen wird?
A.E.N.: Man muß da, glaube ich, noch einmal unterscheiden. Es gibt sehr viel Forschung im Emotionsbereich, die von Männern gemacht wird. Es ist offensichtlich ein Bereich, der auch für männliche Forscher oder auch männliche Therapeuten sehr interessant ist. Insgesamt und für den therapeutischen Bereich besonders, kann man natürlich schon schauen, ob es die traditionelle Arbeitsteilung noch gibt: "Frauen machen mehr Emotionsarbeit, Männer mehr Kognitionsarbeit". Hierzu könnte die Gender- Perspektive einiges beitragen.
H.K.: Dagmar Hosemann unterscheidet zwischen Intuition und Intellekt. Sie hat das in Freiburg vorgetragen, und ich habe es vor einiger Zeit noch einmal nachgelesen, weil ich es für ein Seminar brauchte. Ich bin immer sehr ambivalent bei dieser Unterscheidung, daß Intuition bei den Frauen und Intellekt bei den Männern zu finden ist.
A.E.N.: Ich finde diese Unterscheidung in Zusammenhang mit Gender ebenfalls nicht so brauchbar. Den Intuitionsbegriff halte ich für die therapeutische oder für die supervisorische Arbeit allerdings für sehr fruchtbar. Ich kann sehr kreativ in einem bestimmten Moment handeln, ohne mir konkret bewußt zu sein, wieso ich etwas bestimmtes gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, gemacht habe. Wenn man dann aber sagt, und das denke ich, gilt für Männer wie für Frauen: "Ich will mich nicht abhängig machen vom Zufall und von der Intuition. Ich möchte wissen, was ich tue," dann müßte man genauer hinsehen und analysieren, wie Intuition eigentlich zustande kommt. Dann kann man schon herausfinden, welches Erfahrungswissen im Zusammenspiel mit welchen Interaktionen in dieser Situation sich einfach wieder gemeldet hat und wie man darauf zurückgreifen konnte. Ich finde Intuition attraktiv für Frauen und für Männer, wende mich aber gegen eine Abwertung von geplantem oder planvollem Vorgehen.
H.H.: In diesem Zusammenhang würde ich gern noch einmal auf den Versuch während des Heidelberger Kongresses (Literaturanmerkung) zu sprechen kommen. Sie haben die Zusammenfassung gegeben, daß das Frauen- und das Männerteam auf der Inhaltsebene aneinander vorbeigeredet haben und auf der Beziehungsebene sich im Clinch getroffen haben. Hier könnte man auch Muster von Emotionalität und Rationalität beobachten. Kann man das auf gesellschaftliche Prozesse übertragen?
A.E.N.: Das ist übertragbar auf fast jede Form der Auseinandersetzung. Auf der Inhaltsebene sind große Unterschiede festzustellen und auf der Beziehungsebene stehen die Gemeinsamkeiten im Vordergrund, z.B. der Kampf oder die gegenseitige Abwertung.
H.K.: Würdest du sagen, daß es typisch männliche und typisch weibliche Verhaltensmuster in der Supervision gibt?
A.E.N.: Auf die Antwort zu dieser Frage wäre ich auch neugierig. Ich stelle diese Frage ganz oft in meinen Supervisionen. Und während der Auftragsklärung fällt dann häufig die Bemerkung: "Wir wollen einmal mit einer Frau arbeiten. Wir hatten schon so viele männliche Supervisoren." Und ich sage dann: "Was bedeutet das denn für Sie? Was denken Sie, was sollte eine Frau anders machen? Wo sind die Unterschiede aus Ihrer Sicht? Und wo lägen die Vorteile und wo die Nachteile?" In solchen Situationen bin ich eher auf der Seite der Neugier, in dem Sinne, daß ich mich immer neu kundig machen möchte. Was heißt es für andere, daß ich jetzt als Frau hier sitze? Häufig kommt die Antwort - und das, denke ich, ist vielleicht das Gemeinsame dieser verschiedenen Situationen: "Eine Frau sorgt mehr für das „Atmosphärische,“ wobei ich nicht genau weiß, was das ist, und ob das unter Umständen etwas mit dem zu tun hat, was wir vorhin besprochen haben, also z.B. mit der affektiven Rahmung.
H.K.: Ich kenne diese Frage auch. Ich kann sie meistens auch nur situativ beantworten. Ich muß es dann abfragen, ähnlich, wie Du es tust. Es wäre natürlich spannend herauszubekommen, was könnten Männer als Supervisanden von Supervisorinnen lernen oder was könnten Frauen als Supervisandinnen von Supervisoren lernen? Oder, ich weiß nicht, ob Ihr auch als Paar Supervisionen leitet? Was bedeutet das, wenn zwei Männer oder zwei Frauen oder ein gemischtes Paar Supervision anbieten? Solche Fragen gehen mir manchmal als Wunschforschungsprojekt durch den Kopf. In der Praxis erlebe ich es aber immer nur situativ.
A.E.N. Es gibt sicher bestimmte Unterschiede. Vorhin ist beispielsweise der unterschiedliche Umgang mit Emotionen erwähnt worden. Ich erinnere mich da an eine konkrete Situation, in der eine Supervisandin in einer Teamsupervision anfing zu weinen. Ich fragte sie in diesem Zusammenhang: "Was sagen Ihre Tränen jetzt?" Es ist mir ganz wichtig kurz innezuhalten, wenn jemand weint, denn in der Regel sagen Tränen noch einmal etwas anderes als Worte, und ich möchte mich gern kundig machen, was die Tränen sagen.
Ein Mann hätte vielleicht anders auf die Tränen reagiert. Er wäre vielleicht peinlich berührt gewesen oder hätte sich durch die Tränen in seiner Arbeit gestört gefühlt. Vielleicht hätte er die Variante des nicht Ansprechens gewählt und sich gesagt: "Ich achte lieber nicht auf die Tränen, dann verschwinden sie vielleicht schneller wieder." Ich denke dagegen, daß es offensiver ist, diese Tränen miteinzubeziehen. Die Tränen haben hier auch eine Meinung, sie haben auch etwas zu sagen. Sie sind Teil unserer Kommunikation. Auf jeden Fall ist es in der Supervision gelungen, die angespannte Situation wieder zu lösen. Die Supervisandin war mir für die Frage sehr dankbar und konnte so über ihr Gefühl der Ohnmacht sprechen, das sie in ihrem Team oft spürt. Als sie dann ihre Tränen hat sprechen lassen, konnte sie bald auch wieder lachen. Vielleicht hätte hier ein Mann tatsächlich anders reagiert.
H.K.: Ich nehme an, daß Ihr in der Weiterbildung auf die Gender- Frage, wenn dies so ein wichtiges Thema für Dich ist, auch einen Blick werft. Ist es wichtig, in der Weiterbildung gerade dieses Thema zu beachten, zu reflektieren und vielleicht auch zu trainieren?
A.E.N.: Mir ist es tatsächlich in der Weiterbildung besonders wichtig, darauf aufmerksam zu machen, daß wir, wenn wir heute therapeutisch oder beraterisch tätig sind, auch in bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontexten arbeiten, in denen bestimmte Geschlechterwirklichkeiten a) geschichtlich entstanden sind und b) noch heute wirksam sind. Es geht darum, den Blick für diesen größeren Kontext zu öffnen und zu erkennen, wo Asymmetrien im Geschlechterverhältnis sichtbar und beschreibbar werden, aber auch wo es Symmetrien gibt. Denn nicht alle Felder, nicht alle Bereiche sind asymmetrisch strukturiert, nur weil wir in einem Patriarchat leben, das die Geschlechterrollen asymmetrisch definiert. Es gibt sehr viele Bereiche, in denen es auch Symmetrien gibt. Deswegen ist es mir ganz wichtig, diese Offenheit für die Unterschiede und für die Gemeinsamkeiten auch in der Weiterbildung zu vermitteln, so daß man sowohl auf das eine als auch auf das andere schauen kann. Konkret gesprochen heißt das, z.B. in einer Paarberatung zu schauen, wo unterscheiden sich Mann und Frau in bezug auf ihre Sozialisation, ihre Vorstellung vom Leben, ihrem Verhalten und ihren Gefühlen, und wo liegen ihre Gemeinsamkeiten. Und beides, sowohl das Betonen der Unterschiede als auch das Betonen der Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten hat seine Bedeutung in der Gender- Frage. Wenn es in einer Paarberatung gelingt, beides zu sehen, sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten und diese auch transparent zu machen, dann bekommt ein solches Paar die Möglichkeit, sich wieder selbst zu bewegen, sich wieder selbst anders zu sehen. Vielleicht schaffen die beiden auch wie auf einer Wippe zu wippen, einmal auf diese und einmal auf die andere Seite. Asymmetrien sind beim Wippen ja erlaubt, sie machen erst den Spaß an der Sache aus. Mal ist der eine unten und mal der andere, oder man hält auch mal inne. Auf diese Weise können die Geschlechterrollen hinterfragt und überall da erweitert werden, wo sie als einengend empfunden werden. In diesem Sinne möchte ich mich in meinem Denken auch nicht von der Geschlechterperspektive einengen lassen und nur noch auf die Unterschiede schauen.
H.H.: Das bezieht sich auch auf die Ansätze, die es im Bereich der Frauenbewegung gibt und die Sie ja in ihrem Artikel: „Die Geschlechterperspektive in der systemischen Familientherapie“ erwähnt haben. Die einen vertreten den Ansatz: "Wir sind alle gleich, es gibt keine Unterschiede" und die anderen sagen: "Es gibt Unterschiede, sogar große Unterschiede." Eine dritte Möglichkeit wäre demnach zu sagen: "Wir sind gleich, aber wir sind auch unterschiedlich." Da hätten wir dann wieder dieses Einerseits und Andererseits.
A.E.N.: Ja, so würde ich das gern verstanden wissen. Beiden Ansätzen, so könnte man sagen, fehlt etwas, wenn sie exklusiv vertreten werden. Man ist in einem "Entweder- Oder- Muster" gefangen: "Entweder sind wir gleich, oder wir sind unterschiedlich." Aus dem systemischen Ansatz weiß man aber, daß diese "Entweder- Oder- Modelle" in der Regel den Blick verengen. Wenn wir aber davon ausgehen, daß wir sowohl ähnlich als auch unterschiedlich sein können, dann werden die Möglichkeiten erweitert.
H.K.: Differenztheoretisch ist das klar, es handelt sich jeweils um die abgedunkelte Seite, die ausgeblendete Seite, gleich und ungleich - eine Unterscheidung, die auch anders sein könnte. Was ich sehr treffend auch in meiner eigenen Biografie wiedergefunden habe, war der Einwurf von Marianne Krüll, daß männliche Konstruktivisten trotz aller Selbstreferentialität häufig einen blinden Fleck entwickeln und ihre eigene Geschlechtlichkeit nicht wahrnehmen. Sie reden, als wären sie geschlechtsneutral. Ich habe daraufhin meine früheren Schriften durchgesehen und festgestellt - es trifft und betrifft mich auch. Dahin geht auch meine nächste Frage, hat sich seit 1987, wo dieses berühmte Heft Familiendynamik von einer Gruppe von Systemikerinnen geschrieben wurde, etwas bei den Konstruktivisten in der systemischen Gesellschaft oder in der Gemeinschaft der Therapeuten getan?
A.E.N.: Ja und nein, die Dinge entwickeln sich, es ist sicher nicht alles so geblieben wie es 1987 war.
H.K.: Klar, das einzige, was wirklich konstant bleibt, ist die Veränderung.
A.E.N.: So ist es, es hat sich etwas verändert, und es hat sich auch nichts verändert. Beide Dinge treffen zu. Verändert hat sich aus meiner Sicht das Bewußtsein über diese Frage im Feld. Ich merke das daran, daß sich doch sehr viele Leute zu diesem Thema weiterbilden und daß vor allem Frauen damit viel anfangen können. Sie sagen, endlich kommen wir auch einmal in der Sprache oder in den theoretischen Überlegungen vor. Das hat uns gefehlt. Aber auch von Männern kommt zunehmend ein Feedback. Auch an ganz konkreten Supervisionsaufträgen kann man merken, daß Gender jetzt thematisiert wird. Auf der anderen Seite hat sich auch eher nichts verändert. Ich sehe nach wie vor auf großen Kongressen männliche Dominanz und leider wird dies vom Publikum offensichtlich immer noch akzeptiert. Und bei der Planung von Verantaltungen wird oft erst gar nicht daran gedacht, daß es auch Frauen gibt, die zu den Kongreßthemen etwas zu sagen hätten. Auf jeden Fall kann keine Rede davon sein, daß die Gender-Idee bereits alles durchdrungen hätte. Auch hier an unserem Institut ist das bei der Planung großer Kongresse immer noch unverändert. Ich sehe da eher, daß an alten Strukturen beharrlich festgehalten wird.
H.K.: Auch literarisch?
A.E.N.: Ja, auch im Bereich systemische Therapie oder Supervision wird wenig zu Gender geschrieben.
H.K.: Eine Ausnahme ist das schöne Buch, das Ihr im Auer-Verlag veröffentlicht habt: Humberto R. Maturana und Gerda Verden-Zöller: "Liebe und Spiel". Die vergessenen Grundlagen des Menschseins. Da merkte man, daß Maturana bereit war, von einer Frau zu lernen.
A.E.N.: Es gibt wirklich wenig von Männern geschriebene Gender- Publikationen. Ich denke, daß sich das ändern wird. Ein anderes Thema ist, daß die vorhandene Gender- Literatur kaum in den anderen Veröffentlichungen zitiert wird. Das ist natürlich bedauerlich. Ich denke aber: "Das Gute setzt sich auf die Dauer durch." Das behaupte ich einfach einmal ganz parteilich und völlig unsystemisch...
H.H.: ... aber ressourcenorientiert.
H.K.: Ich hab noch eine Frage, obwohl das jetzt schon ein schönes Schlußwort wäre. Ich würde dieses Videoband auch gerne Studentinnen und Studenten zeigen. Was würdest Du ihnen mit auf den Weg geben, gerade in bezug auf das letzte Thema, das wir besprochen haben. Kannst Du ihnen einen Rat geben, einen Tip oder eine Aufforderung?
A.E.N.: Spontan fällt mir dazu eine Frage ein, die ich gern stelle, wenn ich die Gender-Thematik in Kursen anspreche: "Angenommen ich wäre ein Mann oder angenommen, es käme eine gute Fee und würde mich in einen Mann verzaubern, oder..." und das würde ich Dich fragen: "Angenommen, es käme eine gute Fee, und würde Dich in eine Frau verzaubern, was würdest Du als erstes tun?" Sich diese Frage zu stellen, das würde ich gern den StudentInnen raten. Es geht bei dieser Frage darum, die eigenen Geschlechterrollen zu erweitern überall da, wo sie einengend empfunden werden. Und es geht darum, mitzudenken aus der Sicht des anderen Geschlechts und auch nachzudenken über die eigenen Bilder, die man von dem anderen Geschlecht hat. Manche Frauen und Männer sagen: "Eine gute Fee, das wäre ja schrecklich." Und manche sagen: "Ja wenn es nur für kurze Zeit ist, dann kann ich mich auf dieses Gedankenspiel vielleicht einlassen." Also ich würde den StudentInnen raten, diese Frage auch einmal bezogen auf sich selbst und auf den eigenen beruflichen Kontext zu stellen.
Ich bin natürlich überzeugt davon, daß Gender eine Ressource für Frauen und für Männer ist. Die Frage stellt sich für jeden: "Wie kann ich diese Ressource entwickeln oder weiterentwickeln? Wie kann ich meine eigene Geschlechtszugehörigkeit wertschätzen? Und wie kann ich daran Vergnügen haben?" Für mich geht es auch darum, das Thema der Geschlechterrollen, selbst wenn es manchmal ein ärgerliches ist, nicht so verbissen zu sehen, sondern zu begreifen, daß es dabei auch um Dinge geht, die Vergnügen machen dürfen. Es muß nicht der Geschlechterkampf sein, sondern es darf auch der Geschlechtertanz sein.
H.K.: Andrea, hab herzlichen Dank, es war ein sehr schönes Gespräch!
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